Die Thorarolle gilt als heilig

Und dabei sogar den direkten Kontakt zu einer handgeschriebenen Thorarolle, wie immer auf Pergament, vor dem offenen Thoraschrein, für Juden der heiligste Bereich. Rabbiner Shlomo Tikochinski hat vor bald drei Jahren seine Tätigkeit von verstorbenen Vorgängern übernommen. Kindheit und Ausbildung erlebte er in Jerusalem. Beeindruckend, wie er auch heitere Seiten zwischen die oft schicksalshaften Ausführungen einzufügen wusste. Das Bethaus, wo Arbonerinnen und Arboner im Männerbereich Platz nahmen, wurde vor 143 Jahren im maurischen Stil erbaut. Doch Juden verkehren in St. Gallen schon seit mindestens 700 Jahren. Sie erlebten mehrmals Verfolgung und Tötung: «Es gab während vier Jahrhunderten schlechte, dunkle Zeiten», führte der Rabbiner aus. Erst seit 1850 dürfen Juden sich in St. Gallen niederlassen, wie anderswo auch, vorher mussten sie immer wieder die Stadt verlassen und sich zB nach Hohenems zurückziehen. Dort gibt es ein jüdisches Museum.
Tendenz: abnehmend
Erste sesshafte Juden waren die Familie Burgauer. Die jüdische Gemeinde in St. Gallen nahm bis etwa 1000 Mitglieder zu; noch vor 50 Jahren zählte sie über 300 Gläubige. Eine Zeitlang gab es für sie je eine liberale und eine orthodoxe Synagoge. Heute ist die Entwicklung ähnlich wie bei den Christen: Die fünf Bücher Mose, Thora und Talmud sowie die geschichtlich bedeutungsvolle Herkunft und privates Brauchtum zählen nicht mehr gleich viel, wenn auch Pessach in zwei Wochen sowie weitere Feste viel bedeuten. Etliche junge Familien machen in der Synagoge aber von Neuem wieder mit. Schon lange sei das Verhältnis unter den drei Buchreligionen in St. Gallen gut, wie der Rabbiner mit deutlicher Freude ausführte. Pfarrer, Rabbiner und Imame treffen sich ab und zu. Tikochinski beliess es nicht bei Hinweisen auf die europäische Geschichte der Juden, mit Holocaust und Übersiedlung Hunderttausender in den 1948 gegründeten Staat Israel. Er ging auch aus seiner Sicht als Historiker und Jude auf Fragen nach Jesus, die Kreuzigung, ferner den von den Juden erwarteten Messias, das Thema Palästina und den Antisemitismus ein. «Jesus war ein Jude», daran erinnerte der Rabbiner die Leute vor sich in den alten Bänken. Nicht allen Christen sei das bewusst, sagte er.
Von orthodox bis liberal
Rabbiner Tikochinski erklärte, unter der römischen Besatzung habe das alte Israel vor 2000 Jahren mehr zu leiden gehabt als unter anderen Besatzern. Er sei in einem orthodoxen Umfeld in Jerusalem aufgewachsen und jetzt für alle zuständig. Das sind ultraorthodoxe, orthodoxe, halb liberale, liberale Juden… Aber offensichtlich, er ist Rabbiner aus tiefster Seele – mit sehr viel Wissen und einem toleranten, fröhlichen Geist. Der Kontakt mit ihm machte Freude und weckte weitere Sympathien für unsere Ursprungsreligion.