Skip to main content

Ein Gnadenjahr

12. Januar 2023
«Für dieses Jahr nehme ich mir vor …» – einen guten Vorsatz am Anfang eines Jahres zu fassen ist eine gute Praxis.

Obwohl vieles dagegen steht: Man hält es ja doch nicht durch; so oft hat man sich etwas vorgenommen, und dann doch aufgegeben, weil man doch nicht recht daran geglaubt hat, weil das Ziel zu gross war, weil der Alltag das Ziel weggespült hat, weil der Aufwand überfordert hat, weil es immer wieder Hindernisse gab, weil … Der Vorsatz war nicht falsch, nur unser Glaube oder Wille zu schwach. Wie wäre es, wenn wir uns ein Gnadenjahr vornehmen? Natürlich, ein Gnadenjahr ist für heutige Menschen ein schwieriger Begriff. Gnade ist ein Wort der religiösen Sprache – und ein grosses Wort, zu dem wir einen Zugang finden müssen. In der Bibel gibt es mehrere Stellen, die ein Gnadenjahr ausrufen und fordern. Die Ansage ist klar und mit konkreten Taten verbunden: «In jedem siebten Jahr sollten in Israel den Angehörigen des eigenen Volkes die Schulden erlassen und Sklaven freigegeben werden. Darüber hinaus sollte der Landbesitz, den ein Angehöriger des Volkes aus Not verkaufen musste, seinem ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben werden, denn das Land ist eine Gabe Gottes und damit nicht veräusserlich.» (Deuteronomium 15,1-18). Und in Lukas 4,19 ruft Jesus ein Gnadenjahr aus. Denn Jesus ist der Messias, mit seinem Kommen verbindet sich ein umfassendes «Gnadenjahr Gottes» für die Menschen.

Gnade vom Jesuskind

Wir werden wohl kaum an ein schweizerisches Gnadenjahr denken, vom Staat verordnet, aber im Alltag kann die Gnade durchaus einen Platz einnehmen, wenn wir es wollen. Eine kleine Weihnachtsgeschichte kann uns dabei helfen: Ein kleiner Junge war bei seinem Grossvater, einem Holzschnitzer, zu Besuch und schaute die Figuren an: die Hirten, die drei Könige, Maria und Josef. Und so stellte sich der Junge vor, dass er auch zum Stall kam und die Krippe sah. Das Jesuskind schaute ihn freundlich an, aber er wurde traurig und Tränen kamen ihm in die Augen. «Warum weinst du?», fragte ihn das Jesuskind. «Weil ich dir doch nichts mitgebracht habe wie die anderen hier», sagte der Junge. Das Jesuskind schaute ihn ganz ruhig an und sagte: «Aber ich möchte tatsächlich etwas von dir haben, drei Dinge möchte ich von dir haben. Das Erste, was ich mir von dir wünsche, ist dein letzter Schulaufsatz.» Da wurde der Junge verlegen und flüsterte ganz leise: «Aber da steht doch ungenügend darunter.» «Ja, darum möchte ich ihn von dir haben. Immer sollst du mir das geben, was in deinem Leben ungenügend ist. Und jetzt mein zweiter Wunsch: Ich hätte gerne deine Kakaotasse», sagte das Jesuskind. «Aber die habe ich doch heute Morgen fallen lassen», sagte der Junge ganz hilflos. «Ja, eben darum. Ich möchte immer all das von dir haben, was du zerbrochen hast.», sagte das Christkind. «Und noch ein dritter Wunsch. Was hast du deiner Mutter geantwortet, als sie dich gefragt hat, warum
die Tasse kaputt gegangen ist?» Der Junge senkte den Kopf und begann leise zu weinen. Denn er hatte seine Mutter angelogen, weil er die Tasse selber zu Boden hatte fallen lassen. In gütigem Ton sagte das Jesuskind zu ihm: «Du sollst mir dein ganzes Leben lang jede Lüge bringen, jeden Trotz und alles Böse. Versprichst du mir diese drei Dinge?» Das tröstete den Jungen, und er versprach alles. Und er erwachte wie aus einem Traum, aber die drei Versprechen, die er gegeben hatte, vergass er nie mehr und hielt sich daran.

Befreiende Gnade

Gnade kann nicht gefordert werden, sie wird uns geschenkt. Wir haben es sicher alle schon erlebt, dass ein Vergehen nicht so hart bestraft wurde, wie wir es erwartet haben, dass uns eine Strafe erlassen wurde, dass
jemand zur Versöhnung bereit war und den ersten Schritt gemacht hat. Und hoffentlich waren wir auch schon «gnädig» und haben nicht mit gleicher Münze heimgezahlt. Gnade ist aber eigentlich ein Geschehen, das von Gott ausgeht: «Gnade ist die unverdiente, unerwartete, unbegreifliche Zuwendung Gottes zum Menschen.» Der Mensch ist also nicht von Natur aus gnädig, er muss Gnade zuerst erfahren. Wenn er sich dann für die
Gnade Gottes öffnet und sie annimmt, kann er die erfahrene Gnade auch an seine Mitmenschen weitergeben. Im alltäglichen Leben und in allen Lebensfeldern – ob persönliche Beziehungen, berufliche Arbeit, Politik, Wirtschaft und kirchliches Leben – sind wir auf Gnade angewiesen. Doch auch hier, Recht kann eingefordert werden, Gnade aber nicht. Wer gnädig ist, sagt seinem Gegenüber: Ich verzichte auf mein Anrecht, mir ist der Friede und die gute Beziehung mit dir wichtiger. Das soll aber kein fauler Friede oder ein dauerndes Nachgeben sein, sondern das engagierte Suchen nach einer guten Lösung in einem Konfliktfall oder in einer verkorksten Beziehungssituation. Der gnädige Mensch ist nicht der schwache oder jener, der dauernd verliert, vielmehr ist er weiter in seiner menschlichen Entwicklung und findet Lösungen, die dem nur Gerechten nicht in den Sinn kommen. Und er findet persönlich zu einer befreiten Lebenshaltung, die ihm auch vieles zurückgibt: Hoffnung und Vertrauen, Freude und Gelassenheit. Ich gebe uns darum den einfachen Rat
und auch die herzliche Einladung mit: Fragen wir uns bei den vielen Entscheidungen im Alltag immer, ob sie auch «gnädig» sind, ob wir mit Gnade zu einer besseren Lösung kommen würden und ganz zutiefst, ob wir etwas von der Gnade Gottes weitergegeben haben. Ein Gnadenjahr – lassen wir uns davon leiten und danach handeln!

Matthias Rupper