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Gotteserfahrungen

14. Februar 2024
Das war ein Lehrbuch mit klaren Fragen und ebenso eindeutigen Antworten: «Gott ist allmächtig.

Was bedeutet das?» Die Antwort ist mir nicht mehr präsent, aber es gab keinen Zweifel an der richtigen Aussage. Wir haben den Glauben «gelernt», wie das Lesen und Rechnen. Dass der Glaube auch verschiedene Antworten und Meinungen zulässt, das war damals nicht gefragt. Und an dieser Art Glaubensvermittlung gab es durchaus ein legitimes Interesse: Unser Glaube sollte uns auch Vertrauen und Sicherheit schenken, er sollte ein Fundament in einer unsicheren Welt sein. Dazu wurde auf diese Art das Grundwissen des christlichen Glaubens weitergegeben. In den letzten fünfzig Jahren hat sich dieses Verständnis grundlegend gewandelt. Das hat nicht nur mit der Kirche zu tun, auch in der profanen Welt ist die 
persönliche Freiheit für viele zum obersten Wert geworden; fraglose Autoritäten wie Staat und Kirche haben ihre Vormacht verloren, sie müssen sich der gesellschaftlichen Diskussion stellen. So gehen Glaubende heute ihren eigenen Weg, um die Existenz und die Gestalt ihrer Gottesvorstellung zu finden und zu begründen. Schon bei den griechischen Philosophen und später bei christlichen Theologen gab es immer wieder Versuche, Gott zu beweisen. Begründet wurden diese Beweise damit, dass der Mensch nur zu vernünftigen und ethisch verantwortbaren Urteilen gelangen kann, wenn er auch eine letzte Instanz bei all seinen geistigen und praktischen Bemühungen bejaht.

Gotteserkenntnis

In der Bibel gibt es Bezugsstellen, welche die Erkennbarkeit Gottes nicht beweisen, aber doch verständlich machen wollen. «Töricht waren alle Menschen, denen die Gotteserkenntnis fehlte. Wenn sie durch ihren Verstand schon fähig waren, die Welt zu erforschen, warum fanden sie dann nicht eher den Herrn der Welt?» (Weisheit 13). Und wer sich weigert, Gott als den Schöpfer zu erkennen und zu ehren, geht einen falschen Weg: «Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen. Sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt.» (Röm 1,18). Solche Aussagen erreichen viele auf ihrer Glaubenssuche heute nicht mehr, denn sie wollen eigene Erfahrungen machen. Das ist ein guter, aber auch ein schwieriger Wunsch.

Gotteserfahrungen?

Eine Gotteserfahrung muss etwas Grosses sein, etwas, was unsere Lebenseinstellung, unsere Lebenshaltung nachhaltig beeinflusst. Wenn wir uns fragen, ob wir solche Gotteserfahrungen gemacht haben, so sind wir wohl zuerst etwas ratlos. Was auch gut ist, denn unsere Erwartungen können auch überzogen sein. Es gibt Formen moderner Frömmigkeit, die beeindruckend sind: päpstliche Weltjugendtage, Pilgerfahrten, Kirchentage, Adoraj-Events – Veranstaltungen mit vielen tausend Teilnehmenden. Das ist mehr als ein Pfarreianlass: gute Gefühle, begeisternde Hypes, Gemeinschaft weltweit. Aber sind das schon Gotteserfahrungen, von denen die Bibel spricht? Oder sind es eher Gruppengefühle, von denen wir begeistert sind? Da muss man genau hinsehen und sich zuerst klarmachen: «Gotteserfahrung pur» gibt es nicht! Dietrich Bonhoeffer hat diese Erkenntnis in eine denkwürdige Aussage zusammengefasst: «Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht» – was heisst: Gott kann nicht ein Gegenstand unter anderen sein, Gott ist nicht ein Stück Welt. Gott entzieht sich all unseren Vorstellungen, er ist der ganz andere, damit begründen die Juden ihr Bilderverbot.

Anzeichen von Gotteserfahrungen

Wir können sie nicht konstruieren, selber erzeugen, sie werden uns geschenkt oder geoffenbart. Thomas will vom auferstandenen Jesus einen handfesten Beweis und versteht dann, dass er nicht mit Wissenschaft, sondern nur im Glauben einen Zugang finden kann. Oder die Jünger in der Emmausgeschichte, die sich doch so sicher waren: «Wir aber hatten gehofft, dass er es sei, der Israel erlösen werde». Sie müssen dieses falsche Wissen aufgeben und zu einer anderen Art Glaubenswahrnehmung fähig werden: «Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn.» Es scheint, dass Glaubenserfahrung eine anspruchsvolle Sache sei und nur wenigen möglich ist. Nein, wir alle machen Gotteserfahrungen, viele in unserem Leben, aber wir bemerken sie oft nicht, weil wir auf das Aussergewöhnliche fixiert sind. Der liebevolle Umgang in der Familie, ein gutes Gespräch, ein wunderbarer Ausflug in der Natur, eine unerwartete Versöhnung, ein berührender Gottesdienst – das sind auch Gotteserfahrungen, nicht de Luxe, aber gute Alltagskost.

Matthias Rupper