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Dorothee Sölle – eine grosse unbekannte Theologin

18. August 2023
In der Sommerzeit gibt es in den katholischen Gebieten ein grosses Fest: Maria Himmelfahrt am 15. August

mit vielen Traditionen und Bräuchen verbunden. Da fällt mir letzthin wieder einmal dieses Büchlein in die Hände «Maria – Eine Begegnung mit der Mutter Gottes». Nicht der Titel ist etwas Besonderes, sondern die Autorin: Dorothee Sölle. Sie ist eine evangelische Theologin und Dichterin (1929–2003); da die reformatorischen Kirchen keine Heiligen kennen (theologisch so verstanden: Nur Gott ist heilig, von den Menschen können wir das nicht sagen), ist eine Beschäftigung mit Maria eher ungewöhnlich. Als kritische und feministische Theologin blieb Dorothee Sölle im evangelischen Wissenschaftsbetrieb in Deutschland darum die Anerkennung weitgehend verwehrt. Aber mit ihren Reden und Büchern hat sie viele Menschen erreicht, eben nicht nur mit gescheiter Theologie, sondern konkret in der Lebens- und Gefühlswelt der Menschen. Nur schon der kurze Einleitungstext zum erwähnten Büchlein zeigt die Einfühlungskraft von Sölle: «Maria: wer war sie wirklich? Wer ist sie denn heute nach zweitausend Jahren? Wer ist sie für uns? Die Bilder der Gottesmutter erinnern uns an unsere eigenen Sehnsüchte nach einem anderen Leben. Ihre Schönheit zieht uns zu ihrer Wahrheit.»

Dynamisches Gottesbild
Sölle setzte sich intensiv mit der Lehre von der Allmacht Gottes auseinander, die so verstanden wurde, dass Gott alles zum Guten lenken wird. Schon 1965 sagte sie auf einem Kirchentag: «Wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiss ich nicht.» Auch heute noch gibt es dieses Gottesbild: Gott ist ein überirdisches Wesen, das den Lauf der Geschichte lenkt. Wenn ich lese oder in Predigten höre: «Gott ist da!», dann frage ich mich, welches Gottesbild da verkündet wird. Denn dann hätte Gott bei vielen menschlichen Nöten und Katastrophen sich abgewandt oder kein Interesse gezeigt. Für Sölle ist es klar: Gott ist nicht einfach da, sondern er geschieht. Das ist auch das tiefe Geheimnis von Weihnachten: Gott bleibt nicht der ferne Weltenrichter, nein, er begibt sich in die Geschichte der Menschen. In Jesus nimmt Gott das Leben von uns Menschen an, mit allen Sorgen und Enttäuschungen und Leiden. Damit ist das Engagement von allen angesprochen, die Jesus nachfolgen wollen: Es geht um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – die grossen Themen der christlichen Sendung. Das heisst nicht, dass Gebet und Gottesdienst und persönliche Frömmigkeit keine Bedeutung mehr hätten; aus diesen persönlichen Glaubensformen soll aber der Mut zur Veränderung unserer Welt wachsen. Das kommt in ihrem persönlichen Glaubensbekenntnis zum Ausdruck: «Ich glaube an Gott, der die Welt nicht fertig geschaffen hat, ich glaube an Gott, der den Widerspruch und die Veränderung aller ungerechten Zustände will.» Nicht den allmächtigen Gott, sondern den mitleidenden Gott hat Jesus verkündet. So trägt ihr Hauptwerk den Titel «Mystik und Widerstand», was heisst, dass aus einer lebendigen Gottesbeziehung die Kraft wächst, sich für eine gerechte Welt einzusetzen.

Eine andere Sicht der Auferstehung
Auch die Auferstehung hat für Sölle ein anderes Gesicht. Nicht das individuelle Seelenheil ist das Ziel, sondern die Erlösung der ganzen Welt: «Mein innerster Wunsch ist, dass diese Erde bleibt, dass Sommer und Winter, Ebbe und Flut, Land und Meer bleiben und ihren Rhythmus behalten. Dass meine Enkelkinder im Fluss schwimmen und in der Sonne spielen können. Ich bin ein Teil der Schöpfung und ich wünsche mir, dass diese wunderbare Erde erhalten bleibt. Im Ozean der Liebe Gottes ist auch Platz für mich kleinen Tropfen.» Bei einer christlichen Beerdigung wären solche Worte wohl heute noch ungewöhnlich. Die biblische Verheissung eines neuen Himmels und einer neuen Erde war ein zentrales Glaubensthema für Sölle, und dazu braucht es eine neue religiöse Sprache.

Bewahrung der Schöpfung
Was uns heute sehr nahe ist mit den ganzen Klimafragen, hat Sölle schon vor Jahrzehnten erkannt: Zur Gerechtigkeit gehört auch das Erkennen und Einstehen für das vielfältige Leben in der Natur. Sölle begründet diese Forderung damit, dass Gott für arme Menschen und für die Erde Partei ergreift. Denn sie haben oft am meisten unter der Ausbeutung und Zerstörung ihres Lebensraumes zu leiden. Das ist für Sölle nicht einfach eine Sache der Wissenschaft und Technik mit der Überzeugung, dass wir Menschen es schon noch irgendwie hinkriegen. Die Einsicht kommt ebenso aus der Mystik, einer tiefen Frömmigkeit. Sie ist möglich, wenn der Mensch wieder staunen lernt, über die Schönheit und Güte der Welt trotz aller Widerstände und Ungerechtigkeit. «Die Seele braucht das Staunen, das immer neue Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen, Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempfindlich machen, um uns lagern.» In ihren umfangreichen Büchern und Schriften entfaltet sich eine weite Welt, die auf einem lebendigen Glauben aufbaut und dann zur Entschlossenheit und dem Einsatz für eine gerechte Welt führt. Es gibt erst vier Frauen, die in der katholischen Kirche zu Kirchenlehrerinnen erhoben wurden: Katharina von Siena, Teresa von Avila, Hildegard von Bingen und Therese von Lisieux – bedeutende Frauen des Glaubens. Dorothee Sölle müsste man auch dazu zählen, wenn sie unserer Kirche angehören würde. 

Matthias Rupper