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Erntedank

02. Oktober 2023
Als ich dieses Jahr in Indien zu Hause war, in meinem Heimatbundesland Kerala, war da die Jahreszeit eines Festes namens Onam.

Die mit diesem Fest verbundene Legende geht auf einen Herrscher namens Mahabali zurück, unter dessen Herrschaft alle gleich waren und es Wohlstand und Wohlergehen für alle gab. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um einen Mythos einer idealen Welt, der sich auf das Erntefest bezieht.

Auch hier in unseren Gemeinden und Pfarreien feiern wir den Erntedank. Oftmals werden viele Dinge, einschliesslich Lebensmittel und die Arbeit und Mühe vieler Menschen, die dahinterstehen, als selbstverständlich angesehen. Die Supermärkte stellen alles direkt im Laden bereit oder bringen mit den Lieferdiensten alles direkt vor unsere Haustür. Erntedank ist eine Zeit der Dankbarkeit für die Schöpfung und für die Früchte der Erde.

Erntedank ist auch eine Zeit, um zurückzublicken und auch die Ernte unseres Lebens und Wirkens zu sehen. Vieles zählen wir zu unseren Erfolgen und sind mit unseren Bemühungen zufrieden. Dafür sind wir dankbar und können Danke sagen. Aber manchmal denken wir, dass einige Dinge nicht erreicht wurden oder nicht so verlaufen sind, wie wir es gewünscht oder erwartet haben. Dafür kann ich nicht danken. Hier ist es eher angesagt, die Not und die Wut herauszuschreien. In diesem Fall gibt es meist keine Antworten, keine Patentrezepte und schon gar keine klugen Sprüche. Bei solchen Situationen brauche ich verständnisvolle Menschen, die mir zur Seite stehen, die mich begleiten und mich unterstützen – und vor allem brauche ich Gottvertrauen!

Die Ordnung der Natur verlangt von uns Aufmerksamkeit und Geduld. Wir werden gebeten, darauf zu warten, den Lauf der Dinge richtig zu verstehen. Wir brauchen Zeit, um unsere Ernte zu bewerten. Vielleicht hilft dazu die folgende chinesische Parabel: Ein Bauer hatte ein altes Pferd für die Arbeit auf dem Feld. Eines Tages riss das Pferd aus und die Nachbarn bedauerten, dass seine wichtigste Arbeitskraft weg war. Der Bauer antwortete: «Pech? Glück? Wer weiss das schon?» Eine Woche später kehrte das Pferd mit einer Herde von Wildpferden zurück, und diesmal gratulierten die Nachbarn dem Bauern wegen seines augenscheinlichen Glücks. Seine Antwort hiess wiederum: «Glück? Pech? Wer weiss das schon?»

Kurze Zeit später versuchte der Sohn des Bauern, eines der Wildpferde zu zähmen, fiel vom Rücken des Pferdes und brach sich das Bein. Jeder der Nachbarn hielt das – angesichts der bevorstehenden Erntearbeit – für ein grosses Pech. Der Bauer sagte auch diesmal nur: «Pech? Glück? Wer weiss das schon?» Einige Zeit später marschierte die Armee ins Dorf und zog jeden jungen Mann ein, den sie finden konnte. Als sie jedoch den Bauernsohn mit seinem gebrochenen Bein sahen, liessen sie ihn zurück. War das nun Glück? War es Pech? Wer weiss das schon? Heisst das nun, dass wir wie einem blinden Schicksal ausgeliefert sind? Im Glauben werden wir es anders verstehen:

Die Ernten des Lebens sind nicht nur die guten Zeiten, die geglückten Taten, sondern auch das, was krumm gewachsen ist, was uns Mühe und Kraft gekostet hat, was aber auch Teil unseres Lebens war. Und dies richtig einzuschätzen, können wir ruhig Gottes Weisheit und Gerechtigkeit überlassen.

Joseph Devasia