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Stille

08. November 2024
Der November ist emotional der ruhigste Monat, in verschiedener Hinsicht.

Wir erleben es in der Natur: Die Ernte ist abgeschlossen, die Bäume verlieren ihr Blätterkleid, das Gras wächst nicht mehr und die Kühe bleiben im Stall. Wir erleben es in den Novemberwochen: Es gibt keine besonderen Festtage, oder nur jene, die uns nachdenklich machen: Allerheiligen und Allerseelen erinnern uns daran, dass unser Leben auf dieser Erde einmal ans Ende kommt, dass wir dann zwar einer guten Zukunft entgegengehen: dem erfüllten Leben im Himmel. An den Gräbern unserer lieben verstorbenen Familienangehörigen ist uns aber die Trauer näher. Abschied, Wehmut und Trauer gehören zum November wie der Nebel, der alles in Grau hüllt. So könnte das Leben in eine ruhigere Gangart kommen.

Sehnsucht nach Stille
Unsere Welt ist laut – wieviel müssen wir im Alltag an Lärm und Geräuschen erdulden. Wirklich still ist es fast nie. Für viele Menschen ist der tägliche Lärmpegel eine ständige Belastung. Und doch: In der Freizeit gehören Surfen im Internet, Fernsehen oder Radio, am Smartphone spielen zu den wichtigsten Inhalten – was nicht zur Stille führt. Doch die Sehnsucht ist schon da, nach einer Umfrage würden zwei Drittel das Wochenende gerne an ruhigeren Orten verbringen. Dieses Bedürfnis wird auch wahrgenommen; es gibt Orte und Gemeinschaften, die Zeiten der Stille anbieten. Das kann ein Wochenende sein oder auch eine kurze Auszeit von ein paar Tagen. Da soll der Mensch zur Ruhe kommen, auf seine innere Stimme hören und zu den tieferen Fragen und Schichten unseres Lebens gelangen. Doch die andere Umgebung ist noch keine Garantie für die innere Erholung, denn Stille kann am Anfang auch Angst machen. Alles Gewohnte fällt weg, die Arbeit, die Familie, die Freizeitbeschäftigungen – da plötzlich den eigenen Gedanken und Gefühlen nachzuhängen, das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Darum werden die Stillesuchenden hingeführt und begleitet.

Die Stille einüben
Ich erinnere mich an einen freiwilligen Dekanatskurs vor fast 40 Jahren; ein Benediktinerpater mit Zusatzausbildung in Spiritualität bot während vier Tagen eine Einübung in Meditation an, viel mehr wusste ich nicht. Die vier Übungen pro Tag liefen immer gleich ab: Wir sassen in einem Viereck auf dem Boden, der Pater gab neben praktischen Hinweisen ein paar einleitende Gedanken, dann sassen wir in Stille eine halbe Stunde, darauf rief uns ein Gongklang zu einem langsamen Umkreisen des Vierecks auf, worauf die zweite halbe Stunde in gleicher Form folgte. Nach einer Stunde gab es eine kurze Pause für Tee oder Wasser vor der zweiten Meditationsstunde nach demselben Muster. Anfangs kreisen in deinem Kopf die Gedanken aus dem Alltag wie wild umher, wann und wie das aufhören wird, weisst du nicht. Und doch stellt sich nach einer gewissen Zeit eine wunderbare Ruhe ein, du siehst dein Leben vor dir, mit allen Fragen und Ängsten, aber auch mit allem, was gut und geglückt ist und dich mit Freude und Vertrauen erfüllt.

Geduld und langer Atem
Es ist so wie bei vielen beruflichen und sportlichen Aufgaben: Es braucht Training, und das heisst einen langen Atem und Geduld. Der Jesuitenpater Niklaus Brantschen hat im Buddhismus die Zen-Meditation eingeübt und bietet diese in Kursen christlichen Stillesuchenden an. Der Psalm 131 kann den Weg weisen: «Ich liess meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in mir.» Das Meditieren ist nicht einfach ein wahlloses Herumkreisen, sondern hat klare Vorgaben. Stille verbindet, bringt uns mit der ganzen Wirklichkeit in Verbindung. Stille hat eine Qualität, sie ist nicht das Sammeln von Wissen oder das Anhäufen von materiellen Werten, «sie ist tief wie die Ewigkeit und weit wie der Himmel» (Brantschen). Wir müssen die Leistungsgedanken loslassen, erzwingen lässt sich die innere Ruhe nicht. Das Gegenteil ist hilfreich: «Nichts wollen – und das mit ganzem Herzen!» (Brantschen). Stille braucht auch einen Rhythmus, ein
paar Minuten am Tag genügen schon und können eine gute Praxis begründen. Die Dichterin Hilde Domin beginnt ein Gedicht mit folgendem Titel: «Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten» – eine schöne Einladung zu stillen Zeiten, im November und auch an jedem Tag.

Matthias Rupper